Ich habe den Krieg überlebt, aber warum werde ich aus meinen Gefühlen nicht mehr schlau?

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    Ich habe den Krieg überlebt, aber warum werde ich aus meinen Gefühlen nicht mehr schlau?

    Hania Hakiel erzählt von Erlebnissen von Menschen in Berlin, die an Überlebensschuld leiden, und zeigt auf, wie sich diese Schuld in Körper und Geist manifestieren kann, und zeigt Schritte auf, mit denen sie angesprochen werden kann. Dieser Artikel ist der erste Teil einer dreiteiligen Serie über die Schuld der Überlebenden. Links zum zweiten und zum dritten Teil finden Sie unten.

    Wenn du beinahe gestorben wärest, wenn du überlebt hast, während das Leben anderer ein Ende nahm, oder wenn du einfach die Möglichkeit hattest, in Sicherheit und relative Stabilität zu entkommen, während andere in Angst und Armut gefangen bleiben, dann ist die Chance groß, dass die Freuden des Lebens durch einen überwältigenden Druck auf deinen Körper und deinen Geist zunichte gemacht werden.

    Im Chaos der Gefühle, körperlicher Empfindungen und der Gedanken nimmst du möglicherweise Wut über die Ungerechtigkeit wahr , du empfindest eine tiefe Trauer nach dem Verlust, hast Angst und bist verwirrt bezüglich dessen, was noch kommen mag, und hast auch ein Gefühl, das sich jeglicher Logik entzieht  – das Gefühl der Schuld überlebt zu haben.

    Es fühlt sich an, als hättest kein Recht mehr zu lachen oder deine Mahlzeiten, Spaziergänge und Beziehungen zu genießen, als wäre dein bloßes Leben ein Verrat an all denjenigen, die weiterhin leiden oder gestorben sind. Als würde deine Freude zu der Ungerechtigkeit in der Welt beitragen, als hättest du dein Recht verlorenen, dir etwas zu wünschen oder dich über etwas zu beklagen. Du bist am Leben und es wird von dir erwartet, dass du dankbar bist, aber das erfährst du eher als eine Last, die du tragen musst.

    Dieser Zustand, genannt das Überlebensschuld-Syndrom, kann dich von dir selbst sowie von den Leuten um dich herum isolieren. Es kann sein, dass du aufhörst, auf deine Bedürfnisse zu hören und dich selbst des Schlafes, der Erholung, ärztlicher Pflege oder des Spaßes beraubst. Vielleicht denkst du „ich habe überlebt, ich muss dafür zahlen und mich bis über meine Grenzen hinaus verausgaben“ oder „ich lebe hier in Sicherheit, ich schulde denjenigen etwas, die noch in Gefahr leben“.

    Wenn die Tragödie, der du entflohen bist, ein fortwährender Krieg ist, ist oft das einzige, was du tun kannst, informiert und in Kontakt zu bleiben, ab und an finanzielle Unterstützung und beruhigende Worte aus der Ferne anzubieten. Vielleicht bist du ständig am Telefon, prüfst andauernd die letzten Nachrichten, bleibst wachsam, immer bereit um zu antworten und um zu handeln. Dein Handy schickt dir permanent Mitteilungen, auch dein Geist und Körper erinnern dich ständig, in einem chaotischen Durcheinander, an deine Verantwortungen, an traumatische Erlebnisse, an ungelöste Probleme, an die Gesichter der Zurückgebliebenen.  Dies kostet viel Energie, sowohl deinem Handy als auch deinem Körper – Geist.

    Und während die Tage verstreichen, verpasst du den Augenblick, in dem du zu deinem eigenen Unterdrücker wirst, fast so wie ein wahnsinniger Diktator, der deine Grundrechte missachtet: dein Recht dich zu erholen, deine Zukunft zu planen, Freundschaften, die Liebe oder das Erlernen neuer Dinge zu genießen. Fast so, als würde das, was dich im Krieg nicht getötet hat, in deiner Sicherheit töten, als würde es langsam deine Beziehungen, selbst zu deinen Liebsten, deine Einzigartigkeit, deine Energie, deine Freude, deine Spontanität auffressen. Du würdest es selbst vielleicht nicht auf diese Weise formulieren, aber du bestrafst dich selbst für dein Überleben, indem du deine Grenzen immer weiter verschiebst; Wie viel kann ich arbeiten? Mit wie wenig Schlaf oder Nahrung komme ich aus? Wie viel Leid kann ich ertragen? Du suchst nach Bestrafung oder Vergebung.

    Das Überlebensschuld-Syndrom isoliert dich von dir selbst aber auch von anderen. Die anderen spüren, dass du nicht richtig anwesend bist, sie spüren, dass du in Gedanken nicht bei ihnen bist, wenn ihr zusammen einen Kaffee trinkt. Deine Freunde oder deine Liebsten haben unter Umständen das Gefühl, dass, egal was sie tun, es nie genügt, um dich glücklicher zu machen und fangen daher langsam an sich von dir zurückzuziehen und die Versuche aufzugeben. Auch du flüchtest in die Isolation, entfernst dich von Personen, die deine Geschichte des Überlebens nicht teilen. Vielleicht findest du sie lästig oder langweilig mit ihren einfachen Kämpfen im Leben, ihren gebrochenen Herzen, ihren Erdnussallergien oder Gewichtsproblemen. Kaum etwas kann Tod, Folter oder Schrecken schlagen. Du schämst dich vielleicht, wenn du ein „Held“ genannt wirst oder von die erwartet wird, dass du Dankbarkeit für dein Überleben zeigst. Wie sollst du auf all das reagieren, mit der dunklen Wahrheit in deinem Herzen?

     

    Diese Abschottung von dir selbst und von anderen verursacht selbstverständlich Angst und wenn diese Angst keine Beachtung findet, kann das zu plötzlichen Panikattacken führen. Warum? Stell dir einen Körper vor, von dem du dich gelöst hast, indem du deine Sehnsüchte und Grundbedürfnisse ignoriert hast. Stell dir einen Körper vor, der unter ständigem Druck steht, einen Körper, der unter Leuten lebt, die fremd und nicht hilfsbereit scheinen. Dieser Körper wird zu streiken anfangen oder versuchen einen verzweifelten Widerstand zu leisten, er wird nach Aufmerksamkeit und Veränderung rufen. Und wie erlangt man besser Aufmerksamkeit, als das rationale Denken abzuschalten, als das Herz so laut schlagen zu lassen, dass man seine Schläge nicht überhören kann, als gezwungen zu werden, sich auf den eigenen Atem zu konzentrieren, weil er unangenehm, anstrengend und schnell wird, so dass dir wieder bewusst wird, dass du auch einen physischen Körper hast, der anfängt zu zittern und über den du die Kontrolle verlierst? Du wirst dir bewusst über die Todesangst, die dein Körper in sich trägt und erkennst in deiner Panik, dass sich etwas verändern muss. Was aber muss sich verändern und wie muss es sich verändern?

     

    Der erste Schritt besteht vielleicht darin, mehr Bewusstsein für das eigene Selbst zu schaffen. Schritt für Schritt. Du bist lange genug gerannt. Es ist an der Zeit, langsamer zu werden, vielleicht neue Wege zu finden, mit der traumatischen Vergangenheit umgehen zu können.

    Sicherlich mag das oben Beschriebene extrem und düster erscheinen. Dennoch finden viele Trauma-Überlebende mindestens einige Teile ihrer eigenen Geschichte darin wieder. Den Prozess zu verstehen, ihn anzuerkennen, könnte der erste Schritt zur Heilung sein.

    Wie kann man also das Überlebensschuld-Syndrom genauer definieren?

    Es kann sich als ein Schuldgefühl dafür äußern, dass man lebensbedrohliche Ereignisse (wie z. B. einen Krieg, einen Mord, einen Terror-Anschlag, eine Naturkatastrophe oder eine Epidemie) überlebt hat, während andere daran gestorben oder zu Schaden gekommen sind. 

    Personen, die unter dem Überlebensschuld-Syndrom leiden, fühlen, dass sie es nicht verdient haben, in Sicherheit zu sein, und sie meinen, es hätte auch sie treffen müssen, obwohl sie oft keine Kontrolle über die Situation hatten und nur begrenzte Möglichkeiten hatten, anderen zu helfen.

    Diese Personen denken nicht nur an Dinge, die sie hätten anders machen können, sondern haben oft Schuldgefühle für das, was sie wirklich gemacht  oder für die Dinge, die sie gesagt haben – jemanden auf der Flucht zu hart geschubst zu haben, ihr Haus beim letzten Mal im Streit verlassen zu haben, ohne sich mit einem Kuss zu verabschieden, oder ein Familienmitglied zornig angeschrien haben, kurz bevor diese oder dieser gefangen genommen oder getötet wurde.

    Im Falle von Traumata, die sich über Jahre ereignet haben, wie zum Beispiel die acht Jahre des Syrien-Konflikts oder die Jahre der verschiedenen Krisen im Irak, wird das Überlebensschuld-Syndrom zu einem ständigen Dialog zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Frage „Was hätte ich besser bzw.  anders machen können?“ vermischt sich mit der inneren Stimme, die fragt: „Was kann ich jetzt, was kann ich in Zukunft besser machen? Wie kann ich das Leben derer retten, die mir etwas bedeuten?“ Viele Syrer, mit denen ich in Berlin rede, erzählen von dem lähmenden Schuldgefühl, das sie in Zukunft wahrscheinlich erfahren werden, wenn sie endlich angekommen sind, einen guten Job gefunden haben, sich niedergelassen  und sich ihrem lokalen Umfeld angepasst haben und dabei vielleicht nicht zwingend die Traditionen und das Rezept für ein perfektes Tabule, dafür aber den Schmerz vergessen haben.

    Die Traumata von vielen frisch Angekommenen wurzeln nicht nur in der Vergangenheit, es ist ein fortlaufender Prozess, dessen Ende nicht absehbar ist. Darum ist es so wichtig und gleichzeitig eine solche Herausforderung, nicht nur vergangene Wunden zu heilen, sondern auch Schmerz und tiefe Trauer in das Alltagsleben zu integrieren, Akzeptanz, Frieden und Würde in den dunkelsten Momenten zu finden, und zu erlauben, dass wieder Licht ins Dunkel gebracht wird und vor allem, zu leben.

    Unberücksichtigt können Schuldgefühle aus dem Bewusstsein gelöscht werden. Schuldgefühle, die im Unterbewussten gespeichert sind, leben ein eigenes Leben auf der Suche nach Erlösung. Erlösung kann Vergebung bedeuten und in der Auswirkung dessen, kann eine Person z. B. tatsächlich geneigt dazu sein, anderen zu helfen und sich selbst dabei zu vergessen, manchmal bis zur Selbst-Sabotage oder sogar bis zur Erniedrigung. Wird das Schuldgefühl unterdrückt, kann es dazu führen, dass der Betroffene die Aggressionen gegen sich selbst richtet und in Drogen- oder Alkoholsucht verfällt, sich körperlich schadet oder einfach unvorsichtig Fahrrad fährt. Diese Selbstverletzung kann allerdings auch in Form einer Autoimmunkrankheit auftreten, bei der das Immunsystem die körpereigenen Organe angreift (wie bei der Hashimoto-Krankheit).  Eine andere Reaktion auf unterdrückte Schuldgefühle können Halluzinationen über den Wunsch der eigenen Bestrafung sein, es können paranoide Gedanken sein oder Bilder von Menschen, die einen verfolgen, auf einen warten, um einem zu schaden, es können bedrohliche Stimmen sein, oder Schatten, die einem folgen. Vielmehr, unterdrückte Schuldgefühle können Teil der eigenen Psyche sein, die hinter einem her ist…

    Meiner Erfahrung nach ist Heilung möglich, sobald der Betroffene es sich erlaubt zu leben. Keine vom Psychiater verordnete Medizin, keine Unterlagen vom Job Center, keine   Resolution der vereinigten Nationen oder von internationalen Mächten, sondern das Mitgefühl mit sich selbst und die Selbst-Liebe ermöglichen es dem Heilungsprozess sich zu entfalten.

    Aber genau darin besteht die Schwierigkeit. Das Schuldgefühl erlaubt es oft nicht, unsere eigenen Wunden anzuerkennen. Das Überlebensschuld-Syndrom bringt einen dazu, zu rationalisieren und das Maß seiner eigenen traumatischen Wunden herunterzuspielen: „Ich bin jetzt in Sicherheit, ich sollte mich nicht auf mich konzentrieren. Andere brauchen mehr Hilfe. Was ich erlebt habe, ist nichts im Vergleich zu dem was andere erlebt haben.  Mich auf meine Gefühle zu konzentrieren wäre unfair, es wäre Schwäche. Ich habe kein Recht, Schmerz zu empfinden“. Das Paradoxe ist nur, dass wenn man die eigenen Traumata, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse vernachlässigt, die Ressourcen aufgebraucht werden, der Körper – Geist erschöpft ist und nicht mehr in der Lage ist, richtig zu funktionieren. Diese Vernachlässigung des Selbst führt im Endeffekt zu körperlicher und geistiger Krankheit. Wie also anderen helfen können, wenn weder Seele noch Kraft übriggeblieben ist?  

    Mir ist bewusst, dass es schwer ist, seine eigenen Bedürfnisse zu erkennen, wenn einen das Überlebensschuld-Syndrom überwältigt, und es dann fast unmöglich ist, der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse grünes Licht zu geben. Wenn du es aber nicht dir zu Liebe tun kannst, so tu es am Anfang anderen zu Liebe. Wie ein altes Sprichwort sagt: „aus einem leeren Krug kannst du kein Wasser schenken“. Wenn du also weiterhin helfen und unterstützen willst, musst du gesund, präsent, geerdet, resilient, körperlich und geistig stark und flexibel bleiben.  Es ist viel verlangt und um diesen Zustand dauerhaft zu erlangen, besteht eine Möglichkeit darin, mehr Gleichgewicht in das eigene Leben zu bringen.

    Im nächsten Artikel teile ich einige Ideen dazu, wie du das angehen kannst, ohne das kleinzureden, was du gerade durchmachst.

    Teil 2 und Teil 3 dieser Serie können durch Klicken auf die hervorgehobenen Links gefunden werden.

    Hania Hakiel ist Psychologin und Psychotherapeutin und leitet das GSBTB Open Art Shelter. Dieser Artikel wurde erstmals in einer speziellen psychiatrischen Ausgabe der arabisch-deutschen Zeitung Eed Be Eed in Zusammenarbeit mit Give Something Back to Berlin veröffentlicht.

    Zeichnungen von Hania Hakiel.