Was uns alle verbindet: Überlebensschuld als universelle menschliche Erfahrung

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    Was uns alle verbindet: Überlebensschuld als universelle menschliche Erfahrung

    Hania Hakiel und Antonia Stasiuk ziehen Vergleiche zwischen den Erfahrungen der Überlebensschuld bei Holocaust-Überlebenden und denen syrischer Flüchtlinge in Berlin an, um zu zeigen, wie diese Schuld eine grundsätzlich menschliche Erfahrung ist. Dieser Artikel ist der zweite Teil einer dreiteiligen Serie über die Schuld der Überlebenden. Links zu den Teilen 1 und 3 finden Sie am Ende des Artikels.

    Zum ersten Mal wurde das Phänomen der Überlebensschuld in den 1960er Jahren von Therapeutinnen im Zusammenhang mit Überlebenden des Holocaust beschrieben, einem Genozid an etwa sechs Millionen europäischen Juden, der während des zweiten Weltkriegs durch das nationalsozialistische Deutschland verübt wurde. Neben den Symptomen des Überlebenden-Syndroms (Wiederkehrende Bilder vom Tod, Depressionen, anhaltende Angstzustände und Gefühlstaubheit) beobachteten die Therapeut_innen bei vielen Überlebenden das Gefühl von Schuld.

    Beschreibungen der Gefühlswelt von Überlebenden des Holocaust nach dem Krieg finden sich unter anderem in der Forschung von Aaron Hass, einem amerikanisch-jüdischen Psychiater und selbst Kind von Holocaustüberlebenden. In seinem Aufsatz „Survivor Guilt in Holocaust Survivors and their Children“ zitiert er persönliche Berichte von Überlebenden. Einige von ihnen erzählen, dass sie das Gefühl haben, eigentlich nicht am Leben sein zu dürfen. Immer wieder fragen sie sich: „Warum ich? Warum habe ich überlebt?“, „Was tue ich hier? Ich war es viel weniger wert als er!“, „Warum habe ich überlebt, und mein Bruder und mein Vater nicht?“

    Andere fragen sich, was sie hätten anders machen können. So berichtet etwa eine Frau namens Rose in einem längeren Abschnitt, wie sie und ihre jüngere Schwester 1944 in das Konzentrationslager Auschwitz kamen (während des zweitens Weltkriegs das größte der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager, in dem mehr als eine Million Juden ermordet wurden). Rose überlebte, ihre Schwester jedoch nicht:

    Viele Jahre fühlte ich mich schuldig und fragte mich, ob ich nicht hätte zurückgehen sollen, um sie mitzunehmen oder bei ihr zu bleiben. Vielleicht habe ich nicht genug dafür getan, dass wir zusammenbleiben können. Vielleicht war ich zu sehr darauf bedacht, mich selbst zu retten. Ich kann versuchen, mich zu rechtfertigen, indem ich mir sage, wenn ich zurückgegangen wäre, hätte mich das gleiche Schicksal ereilt wie sie. Doch meine Gefühle sind nun einmal nicht logisch…

    Der amerikanische Wissenschaftler Lawrence Langer zitiert in seinem Buch „Holocaust Testimonies“ eine ähnliche Geschichte. Victor überlebte das Konzentrationslager dank einer besseren und sichereren Arbeit, für die er sich jedoch von seinem kranken Bruder trennen musste: „Ich habe ihn dort zurückgelassen, und ich habe überlebt [langes Weinen]. Selbst wenn ich alles vergessen sollte – das werde ich niemals vergessen. Ich versuche, mein Handeln mit rationalen Argumenten zu rechtfertigen. Kann das irgendjemand verstehen? Kennt jemand meinen Schmerz, meine Qualen… die mich niemals verlassen?“

    Obwohl das Phänomen der Überlebensschuld am intensivsten im Zusammenhang mit Überlebenden des Holocaust erforscht wurde, ist es eine universelle menschliche Erfahrung. Fast siebzig Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs hören wir Ähnliches von den Geflüchteten, die aus dem vom Krieg zerrissenen Syrien nach Berlin kommen.

    „Jetzt weiß ich, dass ich hätte bleiben sollen. Ich hätte mich meinem Vater entgegenstellen müssen und Syrien niemals verlassen dürfen. Mir ist klar, dass ich dann heute tot wäre, wahrscheinlich wäre ich im Gefängnis gefoltert worden wie eine Ratte. Doch wenigstens wäre ich für etwas gestorben, an das ich glaube – für Freiheit und Gerechtigkeit. Ich wäre als würdiger Mensch gestorben. Nun bin ich zwar am Leben, aber innerlich tot. Jeden Tag hadere ich mit mir, ob ich weiterhin wie ein Zombie hier leben soll, oder zurückgehen nach Syrien, um dort in Würde zu sterben. Jeden Tag beim Aufwachen sehe ich die Gesichter meines toten Bruders und meiner Cousins vor mir. Ich hoffe, dass sie mir vergeben können –“ berichtet der 25 Jahre alte Mohammad, der aus einem Vorort von Damaskus kommt.

    In einem anderen Gespräch erzählt der 32 Jahre alte Ahmad aus Homs von der Isolation, die mit der Überlebensschuld einhergeht: „Ich kann keine fröhlichen Bilder bei Facebook posten und habe ständig Angst, dass einer meiner Freunde mich in irgendetwas Lustigem markiert. Ich kann meinen Brüdern und meinen Eltern doch nicht zeigen, dass ich lache. Sie denken sonst noch, ich hätte ihren Schmerz vergessen. Was man auf diesen Fotos, auf denen ich lache und irgendwelche neuen Freunde umarme, nicht sieht, ist die innere Leere und Dunkelheit in mir.“

    Es ist, als wäre mein Körper äußerlich ganz cool und isst einen Döner am Hermannplatz, aber mein inneres Ich, mein wahres Ich also, isst zur gleichen Zeit mit meiner Familie zu Abend, voller Angst vor dem Tod, der jeden Augenblick kommen kann.

    Wie wir bereits in Teil 1 gesagt haben, kann jede Person, die ein traumatisches Erlebnis hatte, bei dem andere Menschen zu Tode kamen oder schwer verletzt wurden, von Überlebensschuld betroffen sein. Weder die Holocaustüberlebenden noch Mohammad oder Ahmad sind mit ihren Gefühlen alleine. Diese sind auch Menschen, die Autounfälle überlebt haben, oder sogar Zwillingen, deren Geschwister im Mutterleib starben, nur zu gut bekannt. Die Überlebensschuld ist somit eine universell menschliche Erfahrung.

    Teil 1 und Teil 3 dieser Serie können durch Klicken auf die hervorgehobenen Links gefunden werden.

    Hania Hakiel ist Psychologin und Psychotherapeutin und leitet das GSBTB Open Art Shelter. Antonia Stasiuk ist Praktikantin im GSBTB Open Art Shelter. Sie abolvierte in Klinischer Psychologie und wird demnächst ihren zweiten magister in Ethnologie und Kultur Anthropologie abschließen. Dieser Artikel wurde erstmals in einer speziellen psychiatrischen Ausgabe der arabisch-deutschen Zeitung Eed Be Eed in Zusammenarbeit mit Give Something Back to Berlin veröffentlicht.

    Zeichnungen von Hania Hakiel.