Vögel, Gebete, die Oud und wie man die Saiten der Seele spielt: einige Gedanken über die islamische Weisheit zur Musiktherapie

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    Vögel, Gebete, die Oud und wie man die Saiten der Seele spielt: einige Gedanken über die islamische Weisheit zur Musiktherapie

    Hania Hakiel und Beatriz Gomez berichten über islamische Weisheit in Bezug auf Musiktherapie, die Geschichte des Einsatzes verschiedener Musiktherapien in alten islamischen Gesellschaften und was dies für moderne Psychotherapie und meditative Praktiken bedeuten könnte.

    Musik gilt als jene universelle Sprache, die Nationalität, Kultur, Alter, Geschlecht und vieles andere übersteigt. Musik – in Form von Naturgeräuschen, als menschliche Stimme oder durch Instrumente – kann mit ihren Schwingungen und emotionalen Zwischentönen die geistige und körperliche Gesundheit beeinflussen.

    Seit der Antike haben verschiedene Kulturen die wichtige heilende Rolle der Musik bei Krankheiten von Körper und Seele erkannt. Die griechische Kultur gilt als Pionier auf diesem Gebiet. Ihr stellte die Musik (oder Mousiké) die Töchter des Zeus dar, dem höchsten griechischen Gott, und trugen die Verantwortung, die Harmonie und die Schönheit der Welt zu bewahren.

    Diese Vorstellung hatte einen großen Einfluss auf die arabische Welt, die später ihre eigene Tradition durch religiöse und spirituelle Elemente umgestaltete.

    Meditative und spirituelle Aspekte von Heilung

    In der arabischen Sprache bezieht sich die Musik sowohl auf Melodien als auch auf eine schöne Stimme, die den Koran rezitiert oder den adhan (Gebetsruf) singt, der meditative, beruhigende Auswirkungen auf die Seele hat. Die Wurzel des Wortes ist ʾadhina أَذِنَ, was „zuhören, hören, informiert werden“ bedeutet – oder besser noch: präsent und aufmerksam sein, was wir als eine der tragenden Säulen des Wohlbefindens betrachten. Fünfmal täglich zum Gebet eingeladen zu werden, ist eine schöne, meditative Praxis, die die Menschen dazu auffordert, der Hast des Tages Einhalt zu gebieten und ihre Verbindung zum Göttlichen inne zu werden. Es mag überraschend klingen, aber Gebete sind eine praktikable therapeutische Technik, wenn sie im Bewusstsein der ausgesprochenen Worte ausgeführt werden, mit einer Aufmerksamkeit für die Bewegung des Körpers und die Empfindungen, die von ihm ausgehen – sei es die Hebungen des Atems, etwas Unbehagen im unteren Rücken, Schwere in der Brust, die Kälte des Bodens und anderes mehr. Regelmäßige Zeiten während des Tages zu finden, um das Vertrauen in die heilige Ordnung der Welt zu bestärken und tröstende Mantras zu rezitieren, ist ein Rezept, das man von einem Therapeuten erhalten könnte – Religionen und spirituelle Traditionen dieser Welt bieten seit Jahrhunderten Heilwerkzeuge an.

    In der westlichen Psychologie der Gegenwart gibt es heute eine Vielzahl von Forschungsarbeiten, die sich mit den Auswirkungen von Gebet und Meditation auf die psychische Gesundheit befassen. einschließlich der Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen. Als wir diesen Artikel schrieben, waren in den großen US-amerikanischen und britischen Zeitschriften gerade Schlagzeilen zu lesen über die angeblich revolutionäre Entdeckung der alten indischen Praxis, ein Mantra innerlich zu rezitieren, um in einen tranceähnlichen Zustand zur erfolgreiche Behandlung von PTBS einzutreten.

    Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass wir im sogenannten Westen Methoden nur dann einen Wert beimessen, wenn sie von den berühmten europäischen oder US-amerikanischen Universitäten verifiziert werden.

    Man führt eine empirische Studie über eine kleine Gruppe von Menschen durch und erst dann, nach statistischer Analyse der Daten, sind wir bereits, sie „evidenzbasiert“ zu nennen. Man könnte hier fragen, wie es dagegen um die Evidenz jahrhundertelanger menschlicher Erfahrung und Studien von Gelehrten aller Disziplinen und Traditionen steht?

    Die Achtung und die Berühmtheit, die buddhistische Achtsamkeitspraktiken genießen, stellte sich erst ein, nachdem man das Gehirn der buddhistischen Mönche gescannt hatte: In der Tat stellte man fest, dass Hirnregionen, die für positive Emotionen verantwortlich waren, während der Meditation aktiviert wurden, Die Ausübung dieser Praktik über einen längeren Zeitraum stärkte überdies das Immunsystem sowie die Plastizität des Gehirns (seine Fähigkeit, sich an die sich ändernde Umgebung anzupassen).

    Wenn man den islamischen Gebeten lauscht, spürt man ihre heilende und spirituelle Dimension unabhängig vom jeweiligen eigenen Glauben. Man könnte sagen, dass in den traditionellen Klängen und Ritualen jahrelanges Studium und angesammeltes Wissen über individuelle Erfahrungen, die von den Vorfahren weitergegeben werden, verankert sind.

    In diesem Essay beleuchten wir die islamische Musik und ihr Heilpotenzial als eine für jedermann zugängliche meditative Praxis.

    Eine historische Perspektive auf die Musiktherapie in islamischen Traditionen

    Unter den wichtigsten islamischen Gelehrten ist Al-Kindior, auch bekannt als Abu Yaqub ibn Ishaq al-Kindi (801-870M), der früheste Gelehrte der islamischen Kultur, der Musik als Therapieinstrument untersuchte. Er vertrat die Meinung, dass der Mensch durch astrologische Elemente mit der Musik verbunden ist. Aus diesem Grund ordnete er den sieben Noten die sieben Planeten zu. Der menschliche Körper ist ihm zufolge mit der Natur verbunden und zu verschiedenen Zeiten des Jahres, des Tages und während der verschiedenen Ausrichtungen der Planeten reagiere der Körper unterschiedlich und erfahre daher unterschiedliche Emotionen.

    Ein anderer Gelehrter, Abu Bakr Muhammad ibn Zakariya al-Razi (854-932M), meinte, Musiktherapie sei eine gut geeignete Heilungsmethode für psychische Leiden wie Angst. Nach ihm war es Abu Nasr Muhammad ibn Muhammad Farabi, besser bekannt als al-Farabi (872-950M), der viel Wert auf die Art und den Zeitpunkt der Erfahrung von Musik legte. Er betonte die Verschiedenartigkeit von Individuen, die Differenzen in ihrer Reaktion auf Arten von Musik und die Veränderung des Körpers zu unterschiedlichen Tageszeiten.

    Die traditionelle islamische Musik basiert auf sieben Skalen und Modi, besser bekannt als Makams. Heute kennt man fast 600 Makams und ihre Vielfalt legt ihre vielfältigen therapeutischen Anwendungen nahe. Nach al-Farabis Auffassung hat jedes Makam eine besondere Eigenschaft, die bewusst angewendet werden kann, um den gewünschten therapeutischen Effekt zu erzielen. Zum Beispiel wurde das Buzurgmakam zur Behandlung von Angst und Schrecken empfohlen und traditionell nach den Isya’ (Nachtgebeten) gespielt. Ein weiteres Beispiel ist das Rastmakam, dessen Hauptziel es ist, Freude und Glück zu erzeugen. Das Sebamakam gilt als besonders auf traurige Gefühle zielend, daher sollte ihre Verwendung bewusst geschehen, zum Beispiel um tief in der Seele gespeicherte Emotionen nach einzelnen oder mehreren traumatischen Ereignissen aufzulösen, oder wenn eine Person nicht in der Lage ist, den Trauerprozess zu durchlaufen und so lebt, als wäre sie selbst emotional tot.

    Auch die in der islamischen Musik verwendeten Instrumente haben eine Verbindung zum menschlichen Körper. Einige der beliebtesten sind nein, das symbolisiert die menschliche Psyche und Oud, oder Laute, der König der Instrumente. Jede der Saiten der Laute repräsentiert eines der Erdelemente: Feuer, Wind, Erde oder Wasser, aber auch eine der vier Jahreszeiten, die vier Viertel des Tages, vier Lebensabschnitte und so weiter. In diesem Sinne führt die Kombination verschiedener Saiten zu unterschiedlichen Empfindungen und Emotionen, die den Körper mit dem Universum verbinden.

    Die heilende Kraft der arabischen Musik wurde von Anfang an medizinisch genutzt.

    Tatsächlich wird angenommen, dass das weltweit erste psychiatrische Krankenhaus 705 n. Chr. von al Razi in Bagdad im Irak gegründet wurde. Psychische Störungen wurden damals als medizinische Erkrankungen betrachtet und mit Methoden behandelt, die der modernen Psychotherapie und medikamentösen Behandlung nahekommen. Die bewusste Anwendung von Musik war in den alten arabischen Krankenhäusern bereits im 9. Jahrhundert etabliert.

    Eines der bekannten Behandlungsprogramme bestand aus sieben Musikern und drei Sängern, die dreimal pro Woche spielten und die mit der täglichen Einwirkung von Naturgeräuschen wie Wasserfontänen in den Fluren und Vögeln in den Blumengärten kombiniert wurden.

    Diese Aufstellung zielte darauf ab, eine natürliche heilende Umgebung zu schaffen, in der nicht nur Musik, sondern auch die Natur eine wichtige therapeutische Rolle spielte.

    Die Lektüre dieser diese frühen Errungenschaften in der Psychotherapie durch Musik kann für moderne europäischen Ärzte überraschend sein. Es gibt ein schädliches, aber weit verbreitetes Stereotyp, es wohne der muslimischen Tradition inne, psychische Erkrankungen nur mit Dämonen oder bösem Geist zu assoziieren und sie allein durch Exorzismen zu behandeln.

    Wir bringen dies alles nicht als bloße Darstellung von unterhaltsamen Fakten zur Sprache, sondern um Überlegungen darüber anzustellen, wie die Tradition des Islam in moderne Behandlungsmodelle für muslimische Patienten einbezogen werden kann und wie die Tiefe der islamischen Lehre genutzt werden kann, um die vorherrschenden Stereotypen in Frage zu stellen und das Gefühl von Stolz und Würde, insbesondere bei muslimischen Patienten, wiederherzustellen. Musik kann ein guter Ausgangspunkt für den Dialog über Heilungsprozesse als relativ neutraler Bereich sein, der sich den Einschränkungen der Sprache und einer falschen Normativität entzieht.

    Wie bei jeder Tradition werden wir auch die islamischen Musiktherapie durch die Augen der Neuzeit betrachten, dem gegenwärtigen Moment und individueller Einzigartigkeit beschäftigen.

    Anpassung alter Weisheiten an die Moderne und die menschliche Einzigartigkeit

    Es liegt auf der Hand, dass Geräusche, die unharmonisch oder unangenehm sind, das System stören können. Welche Geräusche wir so verstehen, hängt nicht von den universellen Definitionen von Harmonie und Schönheit ab, sondern von den einzelnen Lebensgeschichten, Assoziationen und den Reaktionen jedes Nervensystems auf Reize. Es ist wichtig, jeden Menschen als einzigartiges Buch zu lesen und die Musik an diese Einzigartigkeit anzupassen.

    So können beispielsweise die Wassergeräusche, die häufig in der Meditation und in Heilkompositionen verwendet werden, traumatische Erinnerungen und körperliche Reaktionen von Angst und Schrecken bei Menschen auslösen, die eine schreckliche Bootsreise nach Europa erlebt haben. Wasser ist auch ein gemeinsames Element bei Folterungen, die einige jener Menschen erlebten, bevor sie in Europa Asyl fanden. Es gibt einen Grund, vorsichtig zu sein mit Geräuschen von Meereswellen oder Wasserfällen, aber auch hier gibt es keine allgemeine Regel dafür, was sicher funktioniert und was nicht. Einige Menschen aus unserer Community haben uns ihre Erinnerungen an Brunnen und Vögel in Damaskus als die wertvollsten und schönsten mitgeteilt, die sie aus Syrien haben. Für sie könnte ein schöner Spaziergang im Park mit einem Halt am Springbrunnen oder am Fluss, wo viele Vögel ihre Nester finden, eine Möglichkeit sein, diese heilenden Zusammenhänge in aktuelle Alltagssituationen zu transportieren.

    Wie bei jeder Therapie müssen auch bei musikalischen Interventionen fundierte Kenntnisse über die Geschichte und Reaktionen der Person angestrengt werden. Musik kann uns an einen Ort versetzen, an dem wir uns derzeit nicht physisch befinden oder an dem wir etwas aus der Vergangenheit neu erleben möchten. Daher ist es wichtig zu wissen, wohin wir unterwegs sind.

    Die spezifischen Klänge arabischer Instrumente können die Menschen nach Hause transportieren und verursachen eine süße und traurige Nostalgie. Für diejenigen, die das Gefühl haben, dass sie die Fähigkeit zu aufgrund ihrer Traumata verloren haben, kann eine tiefe Traurigkeit, die durch die Musik der Heimat ausgelöst wird, ein gewünschter Zustand sein – ein Zeichen dafür, dass sie noch am Leben sind, in der Lage, die Gefühle und Empfindungen, die im Körper eingeschlossen sind, aufzutauen.

    Und doch können Heimatklänge überwältigend sein. Ein syrischer Freund, ein Musiker, beschloss, sich ein Jahr lang vom Spielen und Hören syrischer Musik zurückzuziehen, um seine Wunden zu heilen. Die starken Emotionen, die durch die Musik hervorgerufen wurden, erlaubten es ihm nicht, an die Zukunft zu denken und im Moment präsent zu bleiben. Nach einiger Zeit war er schließlich wieder bereit für die Konfrontation mit sich selbst und seiner Vergangenheit, indem er sich erneut den syrischen Klängen überantwortete und ihnen in Berlin ein Zuause gab. Heute spielt er als professioneller Musiker in verschiedenen Berliner Szenen und verkörpert metaphorisch seine neue vielschichtige Identität. Die Fähigkeit, die Klänge der Heimat zu erhalten, ist eine friedliche Metapher für Akzeptanz und Hoffnung – ein Weg, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft in eine zusammenhängende Lebensgeschichte zu integrieren.

    Die Verbindung zur Heimat durch Musik kann auch subtiler sein. Eines der Kinder, mit denen wir zusammenarbeiten, besucht gerne kleine Bauernhöfe in Berlin, um den Geräuschen der Ziegen zu lauschen. Seine Familie in der Provinz Deir Ezzor hatte 300 Ziegen, bevor die Daesh sie enteigneten. Selbst der Lärm auf dem Bauernhof ist Musik, die eine Person mit nach Hause nehmen kann, und ein Kommunikationsmittel, das in Momenten der Einsamkeit und Verzweiflung hilft. Diese Erfahrungen können sowohl für den Körper als auch für die Seele beruhigende und wohltuende Wirkungen haben, aber sie sind nicht gleichbedeutend mit der Ablehnung von Traurigkeit, sondern mit ihrer Integration und Akzeptanz.

    Folglich kann Musik beruhigend und mit Identität verbunden sein. Nigel Osborne, Musikkomponist und Musiktherapeut, schreibt: „Da kulturelle Unterschiede so oft im Mittelpunkt des Konflikts stehen, muss auch die kulturelle Praxis im Mittelpunkt der Konfliktlösung stehen.“ Und es gilt für den Konflikt, der entsteht, wenn sich Menschen unterschiedlicher Herkunft in einem Raum treffen, ebenso wie für die inneren, psychologischen Konflikte, die Menschen erleben, wenn sie migrieren und unter neuen Regeln, Sprachen und Gesichtern leben müssen und versuchen, sie mit ihren Herkunftskulturen zu versöhnen. Wir hoffen, dass wir uns der Musik und den meditativen Praktiken verschiedener Kulturen und Religionen zu Hause, in der Schule, auf der Straße, in den Krankenhäusern, in den Psychotherapieräumen etc. zuwenden können, um die Wunden zu heilen und Frieden in und aus, untereinander und in unseren Körpern und Geistern zu erreichen.

    Hania Hakiel ist Psychologin und Psychotherapeutin und leitet das GSBTB Open Art Shelter. Beatriz Gomez absolviert derzeit ein gemeinsames Masterstudium in der Psychologie für globale Mobilität, Inklusion und Diversität in der Gesellschaft und war Praktikantin im GSBTB Open Art Shelter. Dieser Artikel wurde erstmals in einer speziellen psychiatrischen Ausgabe der arabisch-deutschen Zeitung Eed Be Eed in Zusammenarbeit mit Give Something Back to Berlin veröffentlicht.

    Zeichnungen von Hania Hakiel.

    Quellen

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